Viktoria teilt ihre Erfahrungen
Viktoria teilt ihre Erfahrung
Mein Name ist Viktoria und ich bin Mitte der 1970iger Jahre in einem kleinen Bauerndorf in Ost-Österreich geboren worden. In bin das vierte von elf Kindern einer Kleinbauernfamilie. Die vierte Tochter, die noch immer kein Sohn geworden ist. Mein Vater ist Alkoholiker. Seit er sein erstes Geld verdient hat, hat er es teilweise oder ganz in Alkohol umgesetzt und ist diesem Verhalten bis heute treu geblieben. Er ist nasser Alkoholiker. Ich bin heute 36 Jahre alt und Erwachsenes Kind.
Meine Mutter ist die mittlere von fünf Kindern einer Bauernfamilie und ebenfalls Erwachsenes Kind. Ihr Vater war Alkoholiker, der an Alkoholismus gestorben ist, beim Versuch, sich zu erhängen. Meine Mutter ist bei seinem Tod 16 Jahre alt und wird zwei Jahre später einem Mann begegnen, der denselben Namen wir ihr Vater trägt und ebenfalls Alkoholiker ist. Sie wird ihn heiraten, 11 Kinder mit ihm haben, ihn aufopfernd und überfürsorglich lieben, im Versuch, ihn zu retten und sich selbst dabei aufgeben und erschöpfen.
Mein Vater ist der jüngste Sohn und Hoferbe von 9 Kindern einer Bauernfamilie und den Gewalttätigkeiten seiner älteren Geschwister, vor allem Brüder ausgesetzt, die viel Macht in der Familie erhalten, nachdem die Mutter psychisch krank ist (heute würde man sagen Burnout-Depression) und der Vater durch einen Unfall mit Hirnschädigung in seiner Motorik eingeschränkt ist. Seine Mutter heiratet spät für die damalige Zeit (Ende 20) und bekommt in kürzester Zeit 9 Kinder. Sie ist abhängig von der Mithilfe ihrer Schwiegermutter, mit der sie sich nicht gut versteht. Bei der Arbeit mit den Kindern und dem Hof hat sie von ihrem Mann wenig Unterstützung, da er bevorzugt auswärts arbeiten geht um den lauten Streitereien mit seiner cholerischen Frau zu entgehen. Als die Kinder erwachsen sind, erhängt sich meine Großmutter aus Verzweiflung. Damals ist mein Vater 22 Jahre und bleibt mit seinem alten Vater allein auf dem Hof, den er nie wollte. Drei Jahre später wird er seiner Frau begegnen, die seinen Wunsch erfüllt, und ihm keine lauten, zornigen Vorwürfe macht, wie seine Mutter.
Schon als Baby in der Wiege weiß ich, dass es nicht in Ordnung ist, meinen wahren Gefühlen freien Lauf zu lassen und zu schreien, wenn mein Vater zu Hause ist. Dann ängstigt sich Mama wieder und Papa ärgert sich über den Lärm und schreit. Ich bin tief enttäuscht, kein Junge zu sein, weil mein Umfeld erwartet und erhofft hatte, dass ich einer sein solle. Ich lerne schnell, wann es gut ist zu schweigen und mich unsichtbar zu machen um nirgends anzuecken. Ich realisiere die Angst von meiner Mutter gegenüber meinem ständig betrunkenen Vater und gegenüber vielen anderen Situationen und Menschen in ihrem Leben. Ich realisiere, dass sie sich überarbeitet, nicht schont und nicht gut für sich sorgt. Ich möchte sie vor meinem Vater retten und werde es im Laufe meines Lebens zu einer Priorität machen, sie vor sich selbst und ihrem Mann zu retten. Ein Unterfangen, an dem ich täglich scheitere und dass mich zum absoluten Versager in meinen Augen werden lässt. Ich lehne meinen Vater ab, da er mich ablehnt, obwohl ich mir innig wünsche, nur einmal von ihm gesehen, geliebt, erkannt zu werden. Es würde mir schon genügen, wenn er mich einmal mit meinem Vornamen ansprechen würde. Das geschieht aber nicht. Wenn ich mit ihm allein bin, habe ich einfach nur Angst. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und wie ich mich bewegen soll. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe keine Identität, denn das, was ich bin, wird laufend von ihm ignoriert und abgelehnt, also beschließe ich, mein Wesen keinem mehr zu zeigen, weil es nicht wertvoll ist. Mein Selbstwert verliert sich. Ich fühle mich von ihm völlig ignoriert und abgelehnt. Das einzige, was meinen Vater zu erreichen scheint und wodurch ich seine Aufmerksamkeit und Anerkennung gewinnen kann, ist Leistung. Also beschließe ich, da ich sportlich gut bin, dort eine Siegerin zu sein, was mir im Alter von 11 bis 13 Jahren oft gelingt. Ich komme mit Pokalen und Medaillen nach Hause und werde für den Moment zumindest gesehen.
Dem Beispiel meiner Mutter folgend entwickle ich die Lebenseinstellung „ich leiste also habe ich eine Lebensberechtigung“. Ich bin keine Vorzugsschülerin, aber eine gute Schülerin und ich lerne leicht. Als eine der älteren Schwestern trage ich schnell große Verantwortung im Umgang und der Pflege meiner kleineren Geschwister. Ich passe auf sie auf, wickle sie, lege sie schlafen, füttere sie, trage sie herum, beschäftige mich mit ihnen. Meine Mutter ist mit ihrer Arbeit ganz alleine und braucht uns älteren Töchter um den Tagesablauf zu bewältigen. Je älter ich werde, umso mehr wehre ich mich dagegen und als meine Mutter zu müde wird um mich zu zwingen ihr zu helfen, versuche ich, so wenig wie möglich im Haushalt zu tun. Deshalb habe ich riesige Schuldgefühle, weil sie so viel zu tun hat. Ich werde zum Rebell und diejenige, die meine Mutter konfrontiert und mit ihr diskutiert. Im Alter von 16 bin ich das erste ihrer Kinder, die Mama offen fragt, ob Papa ein Alkoholproblem hätte und sie sagt „Ja“. Davor ist dieses Thema in unserer Familie ein absolutes Tabu und wir hören, dass wir eine ganz normale, liebevolle Familie seien. Nun, ich kann das – anscheinend als einziges Geschwister – nicht glauben und stelle mich noch etwas mehr ins Abseits. Meine widerspenstige Rolle „meinen eigenen Weg“ zu gehen hilft mir dabei. Ich isoliere mich innerlich, fühle mich verlassen und verraten.
Etwas, das ich als kleines Kind auch schnell begreife ist, dass meine Mutter, wenn wir Kinder mit ihr alleine sind, auf uns eingeht und für uns da ist, so gut es ihre Arbeit erlaubt. Sie lebt in diesen Zeiten für uns, indem sie für uns arbeitet und uns anhört. Wir verbringen als wir etwas älter werden Stunden bei ihr in der Küche um zu plaudern, während sie bügelt. Eine schöne Zeit, weil ich ihre Aufmerksamkeit habe. Sobald allerdings Papa nach Hause kommt, verschwindet ihre Persönlichkeit. Sie ist nur noch auf meinen Vater konzentriert und ihm zu Diensten und wir alle verändern unsere Persönlichkeit wie Chamäleons. Ich habe immer das Gefühl, der Sargdeckel würde sich schließen und ich hätte keine Luft und kein Licht zum Leben. Das Leben hört auf, wenn auch meine Mutter verschwindet, wie mein Vater. Dieses Verlassen- und Verraten sein ist überaus beängstigend und lebensbedrohlich für mich.
Um zu überleben verherrliche ich meine Eltern. Ich rette mich in eine Traumwelt, in der meine Mutter meine Heldin ist und ich folge ihrem Beispiel so gut es geht. Sie ist die Person, der ich dennoch alles anvertraue. Meine engste Gefährtin und Freundin, da ich keine Freundin oder keinen Freund in meinem Alter habe. Meine Schulkollegen lehne ich ab und begegne ihnen überheblich und arrogant. Ohne diesen Selbstschutz würde ich mich keinen Tag in die Schule trauen. Ich bin lieber mit den Burschen zusammen, weil diese Beziehungen distanziert sind. Gemeinsam sporteln und konkurrieren ist Nähe genug. Ich verbringe die Freizeit in meiner Jugend alleine und lese sehr viel im Schlafzimmer von uns 4 Mädchen, das unter tags meistens frei ist. Ich entwickle eine starke Esssucht, werde fernsehsüchtig und suche mir weitere Fluchtaktivitäten, um mit meinem Leben fertig zu werden. Ich lerne, nicht über meine wahren Gefühle zu sprechen, da wir in der Familie wortlos sind.
Zwischen diesen Mühlen des „Anerkannt-sein-Wollens“ und des „mich-total-abgelehnt-Fühlens“ entwickle ich mich zu einem Leistungsmenschen, einem Perfektionisten und einer exzellenten Schauspieleren, die ihr wahres Wesen nie zeigt. Ich habe dramatische Versagensängste, bin überheblich, besserwisserisch und arrogant. Ich werde überkritisch und verurteile mein Umfeld, wie mich selbst. Ich suche die Schuldigen im Außen und finde täglich genug Menschen und Situationen, die für meine unguten Situationen verantwortlich sein sollen. Das Selbstmitleid und eine latente, andauernde depressive Stimmung haben mich fest im Griff. All das verstecke ich hinter einer sanften, verständnisvollen Hilfsbereitschaft, die meinen nächsten Bezugspersonen aber keine Hilfe bringt, weil diese Freundschaften bzw. Verliebtheiten immer im Streit auseinander gehen. Das verstärkt mein Gefühl eine Versagerin zu sein und ich hasse mich von ganzem Herzen.
Es fällt mir überaus schwer, mich in einer neuen Umgebung zu Recht zu finden. Als ich mit 14 ins Internat komme brauche ich fast ein halbes Jahr, um mich anzugewöhnen und meinen Alltag normal zu bewältigen. Ich weine jeden Abend aus Verzweiflung und Überforderung, was ich selbstverständlich niemand zeige und zu Hause nicht erzähle. Ähnlich geht es mir als ich nach der höheren Schule mit meinem ersten Berufsalltag konfrontiert bin. Ich bin verzweifelt, völlig überfordert und mutlos, kämpfe aber mit allen meinen Kräften und werde fachlich sehr schnell gut. In den nächsten Jahren mache ich beruflich Karriere, ziehe laufend um, wechsle häufig den Job und verliebe mich in regelmäßigen Abständen in einen Mann, der schwere Suchtprobleme hat und den ich vergeblich zu retten versuche. Ich habe zu keinem dieser Männer eine Beziehung. Über Gespräche gehen diese Bekanntschaften nicht hinaus. Gute Männer, die sich für mich interessieren empfinde ich langweilig und flüchte mich lieber in Traumwelten über Happy-End-Romanen. Ich bilde mich weiter und forciere meine berufliche Karriere, um anerkannt zu werden. Ich setzte mich vier Jahre einem berufsbegeitenden Studium aus um noch erfolgreicher werden zu können und nehme direkt danach eine sehr verantwortungsvolle Position in einem schwierigen Unternehmen wahr. Ich bin arbeitssüchtig, weil mich auch das sehr gut von meinen Gefühlen, und meinem Leben ablenkt. Ich erschöpfe mich immer wieder und ergehe mich in Beziehungsdramen, die furchtbar weh tun.
Das alles gipfelt in chronische Verspannungsschmerzen, die mich demoralisieren und es mir unmöglich machen einer Arbeit nachzugehen und mich in den Beruf zu flüchten. Ich beschließe, keine Tabletten zu nehmen, weder die verschriebenen Antidepressiva, noch Schmerzmittel. Ich bin 5 Monate isoliert, da ich alleine lebe und meine beruflichen Kontakte auch immer meine privaten waren. Ich bin von Monat zu Monat verzweifelter und meine so klaren Bitten an Gott werden nicht erhört. Ich bin zornig auf Gott, auf die Welt und auf mich selbst und hasse das alles aus tiefstem Herzen. Mir ist in der Seele klar, dass Gott auch in dieser Zeit gut auf mich aufpasst und mir „nur“ Seinen Weg zeigt. Einen Weg, den ich einfach nicht akzeptieren will und mit dem ich hadere. Die Angst mit meinem schlechten körperlichen und emotionalen Zustand keiner Arbeit nachgehen zu können verstärkt die Spirale nach unten und ich erlebe einen bitteren, langen und schmerzvollen Tiefpunkt. Als ich der Bitte meiner Mutter nachkomme und mit meiner jüngsten Schwester das Wohnzimmer und die Küche meines verwahrlosten und baufälligen Elternhauses streiche frage ich mich entsetzt, was mit mir und meiner Familie los ist, weil sich nie jemand um die Instandhaltung des Hauses gekümmert hat. Ich bin erschüttert genug, um mir ernsthafte Gedanken zu machen und erstmals bröckelt die Fassade und das Verleugnen. Nein, wir sind keine glückliche Familie. Nein, ich habe mein Leben nicht im Griff. Nein, ich kann mein Leben überhaupt nicht meistern. Ich lese nach Jahren das Buch „Familienkrankheit Alkoholismus“ noch einmal und die Inhalte erreichen mich. Ich bin erschüttert und beschließe, in ein Al Anon Meeting für Erwachsene Kinder zu gehen. Ich bin bereit, meinen Stolz und meinen Eigensinn zu überwinden und um Hilfe zu bitten. Trotz meiner furchtbaren, vernichtenden Angst gehe ich in dieses Meeting. Die Alternative ist weitaus beängstigender als mein wahres Ich im Meeting fremden Menschen zu zeigen.
Vom ersten Meeting an fühle ich mich angenommen, geliebt – obwohl ich damals noch nicht verstehe, was das ist, und nicht mehr alleine. Wir sind mit mir 6 Personen und die meiste Zeit weine ich vor Erleichterung, Erschöpfung und Dankbarkeit. Der Schmerz, den ich jahrzehntelang vergraben habe kommt ein klein wenig an die Oberfläche und ich kann ihn annehmen und loslassen. Vom ersten Abend an fühle ich mich zuversichtlich, hoffnungsvoll und ich glaube daran, dass es jetzt besser werden wird. Dieses Gefühl bestätigt sich seither Tag für Tag. Seit meinem ersten Meeting gehe ich regelmäßig in Meetings. Ich versuche in der ersten Zeit alle mir möglichen Termine von Meetings wahrzunehmen. Mein arbeitsloser Alltag wird ausgefüllt mit Meetings am Abend und Arbeit im Programm unter tags. Ich beginne mich parallel dazu beruflich zu bewerben und werde von meinen FreundInnen unterstützt und aufgemuntert. Erfreulicher Weise erlauben mir die FreundInnen in zwei AA Gruppen, wöchentlich auch die geschlossenen Meetings zu besuchen. So gehen ich bis zu sechs Mal die Woche ins Meeting, lese die Literatur, lese die Tagesmeditationen und beginne, konsequent in den Schritten zu arbeiten. Ich höre zu und lerne, ich teile meine Erfahrung, Kraft und Hoffnung, ich übernehme Dienste und gewinne eine innige und schöne Beziehung zu meiner Sponsorin. Überhaupt werde ich langsam beziehungsfähig. Ich lerne viel über Co-Abhängigkeit und beginne, mich mit meiner Vergangenheit ehrlich auseinander zu setzen. Die ersten Wochen habe ich das Gefühl schizophren zu sein, weil ich zwischen der Realität und der Verleugnungswelt meiner Vergangenheit unterscheiden lerne.
Ich kapituliere und anerkenne meine Machtlosigkeit dem Alkohol, dem Alkoholiker und anderen Menschen gegenüber an. Ich lerne, dass ich nur mein Leben verändern kann und dass ich nicht in der Lage bin, die Verantwortung von anderen Menschen zu tragen. Ich lerne den Unterschied zwischen Machtlosigkeit und Hilflosigkeit. Ich finde durch die Gruppe langsam das Vertrauen zu einer Macht, die außerhalb von mir und größer als ich ist. Ich finde danach den Glauben und das Vertrauen zum Gott meiner Kindheit, den ich bis dahin nicht als liebevoll und gütig spüren konnte. Nach geraumer Zeit erkenne ich, wie mein Eigensinn, meine Egozentrik und meine Angst mein Verhalten gesteuert haben und mich laufend in missliche Situationen gebracht haben. Ich lerne erleichtert und dankbar, meinen Willen und mein Leben „nur für Heute“ Gottes Sorge zu übergeben. Mangelndes Vertrauen ist ein zentrales Thema und es gelingt mir nach und nach Vertrauen in meine 12-Schritte-Freunde, mich selbst und in Gott zu finden. Ich entspanne mich etwas und das Leben wird ein klein wenig leichter, heiterer, ruhiger. Ich habe mit manchmal beunruhigenden Gefühlen umzugehen und lerne langsam, dass Gefühle nicht die Realität sind und ich sie aushalten kann. Für den vierten Schritt nehme ich mir einige Wochen Zeit und schreibe alles nieder, was ich zu dem Zeitpunkt an Ängsten, Fehlern, Mustern, Talenten, Stärken, Bedürfnissen etc. in mir entdecken kann. Die Erkenntnisse sind ernüchternd und angenehm zugleich. Ich lerne zwischen Scham und Schuld zu unterscheiden und erkenne, wie viele Reaktionen in meinem Leben aus großem Schamgefühl heraus entstanden sind. Vor dem 5. Schritt habe ich Angst, aber meine Sponsorin rät mir, nicht auf die lange Bank zu schieben und da durchzugehen. Also bekenne ich meine Fehler unverhüllt Gott, wobei ich mich sehr geliebt und getröstet fühle. Ich bekenne meine Fehler – vor einem Spiegel sitzend – mir selbst gegenüber und lerne, wie gut es sich anfühlt, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben zu dem stehe, was ich getan habe und tue. Das Bekennen einer anderen Person gegenüber erleichtert mich und das Gefühl der Isolation hört auf. Ja, ich bin ein Mensch. Ja, ich mache Fehler. Ja, alle anderen machen auch Fehler. Ja, ich bin wie alle anderen und gehörte zu dieser Gemeinschaft der Menschen. Wie wundervoll. Immer wieder lese ich das Blaue Buch der AA, das mir viele Erkenntnisse bringt und mich – wie die gesamte andere Literatur, derer ich habhaft werden konnte – auf dem Weg durch die Schritte begleitet. Schritt 6 und 7 erfordern Zeit und ich bemühe mich um Demut und Geduld und um weiteres „loslassen und Gott überlassen“. AA-Meetings schenken mir die Gnade zu spüren, dass ich den 6. und später den 7. Schritt innerlich vollziehe. Ich spüre deutlich, als die Zeit reif ist und ich zum 8. Schritt übergehen kann. Meine Liste der Personen, an denen ich den angerichteten Schaden wieder gut machen will ist recht lange und ich überlege reiflich, wie ich ihn erfüllen kann. In allen Schritten bitte ich täglich meine Höhere Macht um Hilfe, Erkenntnis und Bereitschaft. Ich bitte um Ehrlichkeit, Vertrauen und Kraft. Ich lerne, dass Gott wirklich das für mich tut, was ich nicht selbst für mich tun kann und bin dankbar – so dankbar dafür. Es erleichtert mich, dass Personen, die ich auf meiner Liste habe und zu denen ich schon länger keinen Kontakt habe auf mich zukommen und ich so die Möglichkeit habe, meinen Teil des Schadens wieder gut zu machen. Alle anderen Wiedergutmachungen, die ich leiste gehen positiv aus und ich fühle mich besser und gehe aufrechter. Meine Schuldgefühle werden von Mal zu Mal weniger. Mein Groll, meine Vorwürfe, mein Hass, meine Egozentrik vergehen damit auch jeweils wieder etwas mehr. Bei einigen Personen bin ich heute, nachdem ich ein Jahr im Programm bin, noch nicht bei der Wiedergutmachung angelangt. Es ist wirklich ein Lebensprogramm und für heute bin ich damit zufrieden zu wissen, dass ich daran arbeite und bereit werden will, alles zu vergeben und alle um Vergebung zu bitten.
Das tägliche üben des 10. Schrittes – ich mache das am Morgen – tut mir sehr gut und hilft mir, meine Beziehungen zu klären. Ich bete täglich und meditiere über den Tagestexten. Ich gehe fast jeden Morgen in Gedanken vor Gott alle Schritte durch und fühle mich dann für den Tag gestärkt und geführt. Ich bitte Gott darum, Seinen Willen zu suchen, ihn zu erkennen und mir den Mut und die Kraft zu geben, ihn auszuführen. Dass ich erleichtert bin, nicht länger Gott spielen zu müssen. Diese Last will ich nicht mehr in meinem Leben haben. Und ich will die Liebe und die Gnaden, die ich in den letzten Monaten, seit ich im Programm bin, erfahren habe auch an alle die weitergeben, die noch leiden. Das tue ich im Meeting, das ich einmal die Woche besuche und im Alltag, wenn mir jemand begegnet, der offen sprechen möchte.
Seit einem halben Jahr lebe ich an einem wunderbaren Ort inmitten von Seen und Bergen, habe eine angemessene und schöne berufliche Aufgabe, habe einen liebevollen Freundeskreis aus den Meetings bei dem ich mich aufgehoben fühle. Ich habe meinen Frieden mit meinem Vater gemacht und umarme und bussle ihn, wenn ich ihn sehe. Das ist sehr ungewohnt für ihn, aber er nimmt das an und wir freuen uns beide darüber. Ich werde beziehungsfähiger und habe einen Mann kennengelernt, mit dem ich mich offen austauschen kann, vor dem ich keine Angst habe und bei dem ich mich immer wohler fühle. Ich kann in seiner Gegenwart bei mir bleiben und dennoch mitfühlend und liebevoll sein. Ich kann seine liebevolle Zuwendung annehmen und so zeigen, wie ich wirklich bin.
Ich bin heute für mein Leben wie es war und mein Leben, wie es ist dankbar. Ich bin Gott dankbar für Seine Führung und Seine Gnaden als ich noch keinen brauchbaren Zugang zu ihm hatte und ich bin Ihm dankbar für das letzte Jahr, in dem so vieles in mir heil geworden ist. Ich bin allen Freunden und Freundinnen in den Meetings überaus dankbar für ihre Liebe und ich freue mich, dass ich schlussendlich aufgegeben habe und meinem alten Leben gestorben bin um mein wirkliches Leben zu leben und es zu lieben. Heute weiß ich, dass ich wertvoll bin, liebenswert und fähig zu lieben. Ich weiß heute, was Respekt ist und wie sich Achtung vor mir selbst und vor meinem Nächsten anfühlt. Das Glück meines Lebens ist heute nicht mehr abhängig von anderen Personen, sondern von meiner inneren Einstellung und meiner Beziehung zu Gott. Ich lerne Grenzen zu setzen und „Nein“ zusagen, wenn ich in einer Situation bin, die mir nicht gut tut oder ich in Gegenwart von Menschen bin, die sich unangemessen verhalten.
So werde ich weiterhin „nur für Heute“ im Programm arbeiten und im Vertrauen auf Gott, auf die vertrauenswürdigen Menschen in meinem Umfeld und auf mich selbst mein Bestes geben, gemäß dem Slogan „Fortschritt, nicht Perfektion“. |
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