Eine Al-Anon erzählt
Ich heiße Miriam und bin Al-Anon und erwachsenes Kind aus alkoholkranker Familie.
Al-Anon habe ich gesucht, da ich mit dem Trinkverhalten meines Mannes nicht mehr zurecht kam. Durch den telefonischen Kontakt zu den Anonymen Alkoholikern habe ich erfahren, dass es Al-Anon, für Angehörige gibt. Diesen Schritt habe ich erst gemacht, als ich nicht mehr weiter wusste – heute bin ich sehr dankbar dafür.
Meinen Mann habe ich sehr jung kennengelernt. Bereits zu Beginn hatte ich das Gefühl, dass er zu viel Bier trank. Trotzdem habe ich meiner Wahrnehmung nicht getraut, habe von Beginn an Entschuldigungen für ihn gefunden: „Junge Männer trinken manchmal über den Durst“. Ich wusste, dass er eine schwierige Kindheit hatte und habe manche Fehlverhalten darauf geschoben. Ich war überzeugt, dass wir es gemeinsam schaffen und ich ihm dabei helfen werde. Heute bin ich überzeugt, dass bereits aus meiner Herkunftsfamilie die Basis für meine co-abhängige Denkweise gelegt war.
Viele Jahre habe ich alles versucht um „sein Trinkverhalten“ in den Griff zu bekommen. Ich habe ihn kontrolliert, immer und immer wieder auf ihn eingeredet und auch emotional erpresst. Alkohol hat immer mehr Platz in unserer Beziehung eingenommen. Das Alkoholismus eine fortschreitende Krankheit ist, hat sich auch daran gezeigt, dass mein Mann immer wieder die Arbeitsstellen wechselte und immer die anderen daran schuld waren. Natürlich hat mir das große Angst gemacht – ich dachte aber über meine Angst nicht viel nach und trotzdem war sie eine gewaltige Triebfeder. Wesentlich mehr zerbrach ich mir darüber den Kopf, wie ich ihn trocken legen könnte.
Mit den Jahren wurde es schlimmer. Erschreckend selbstverständlich wurde die Unzuverlässigkeit, die Lügen gehörten zum Alltag und intensiver wurde die Scham. Wenn wir eine Einladung hatten, wenn eine Schulveranstaltung unseres Sohnes war, … d.h. immer wenn wir gemeinsam eine Verabredung hatten, war es mir bereits lieber alleine hinzugehen. Dann musste ich wenigsten nicht die Angst haben, dass mein Mann sich daneben benahm, verbal aggressiv wurde und ich mich für ihn schämte.
Wir bekamen unser Wunschkind und selbst während der Schwangerschaft war es ihm nicht möglich auf Alkohol zu verzichten (das hatte ich gehofft). Damals wusste ich noch viel zu wenig über die Familienkrankheit Alkoholismus und meinte noch immer, dass ich mich einfach noch mehr anstrengen musste, um ihn in den Griff zu bekommen.
Nach der Geburt unseres Sohnes – das Trinken wurde nicht weniger – suchte ich Hilfe bei einer Alkoholberatungsstelle. Diese haben wir gemeinsam einige Male in Anspruch genommen. Leider hörte ich auch damals nicht, dass Alkoholismus eine Krankheit ist und ich bekam auch keine Information, dass es bei Al-Anon Hilfe für Angehörige gibt. Mein Mann bekam den Tipp, dass er kontrolliert, weniger trinken sollte. Ich kann auch heute nicht beurteilen, wie lange ihm das gelang, bzw. wie lange ich wegschaute, verdrängt um es nicht erkennen zu müssen. Heute bin ich überzeugt, dass das Wegschauen, das Leugnen zu meiner Krankheit, der Co-Abhängigkeit gehört.
In dieser Zeit haben wir uns entschieden gemeinsam Haus zu bauen. Ab Baubeginn stieg schlagartig der Alkoholmissbrauch an. Es waren - wie häufig auf Baustellen üblich - die Bierkisten voll gefüllt und der Bauherr war der beste Gast. Während der Bauzeit war mein Mann permanent überfordert, und ich wurde - nach außen – meiner Rolle der starken Ehefrau, die (scheinbar) alles im Griff hat, gerecht. Ich verdrängte immer mehr und redete mir ein, dass sich alles zum Positiven ändern wird, sobald wir eingezogen wären. Außerdem strengte ich mich immer noch mehr an um soviel wie möglich zu vertuschen, damit andere „nichts“ von der Familiensituation mitbekamen. So habe ich selbst erlebt, dass besonders Alkoholismus eine Geheimniskrankheit ist – man redet nicht darüber und tut als wenn nichts wäre.
Weiters setzte ich alles daran, dass unser Sohn so wenig wie möglich mitbekam (das glaubte ich zu dieser Zeit auch bzw. wollte es glauben). Auch hielt ich während dieser Zeit meine Illusion aufrecht: „Sobald die Überforderung, der Stress durch das Bauen wegfiele, würde er der Mann, der Vater,…. den ich mir vorstellte. Wenn mein Mann uns nur genug lieben würde, könnte er weniger trinken!“ Ich hatte keine Ahnung von der Dynamik der Krankheit Alkoholismus.
Ich spürte mich selbst nicht mehr. Ich reagierte nur noch und alles drehte sich darum, wie mein Mann sich heute verhält, mit welchem „Alkoholspiegel“ er wohl heute nach Haus kommt.
Unser Sohn litt am meisten, wenn sein Vater seine Versprechungen nicht einhielt, wenn er betrunken Drohungen aussprach. Ich hätte alles daran gesetzt dies zu ändert – das lag aber nicht in meiner Macht.
In diesem Zeitraum also fand ich zu Al-Anon. Ich dachte, ich will hören wie andere Menschen mit diesem Problem umgehen. Ich weiß heute noch wie wohl, wie verstanden ich mich sofort in den ersten Meetings fühlte. Ich wusste, dass diese Menschen ebenfalls trinkende Angehörige hatten und trotz der belastenden Situationen lachen konnten. Ich spürte die Gelassenheit im Meetingsraum und ich merkte, dass sie gelernt hatten, mit ihrer Angst anders umzugehen. Ich war angekommen - das alles wollte ich auch.
Ich war zwar sehr vorsichtig, da immer wieder Gott und die Höhere Macht in Texten vorkam, und ich wollte keineswegs bei einer Sekte landen. Aber beim Zuhören in den Meetings, wenn Angehörige, welche bereits länger bei Al-Anon waren erzählten, dachte ich, die säßen bei mir zu Haus. Es war ein wunderbares Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit – ich war mit meiner Verzweiflung nicht mehr allein und ich wurde verstanden. Ich brauchte mich bei Al-Anon nicht zu schämen.
Ich erkannte mit der Zeit, dass für uns Angehörige – ob Partner, Kinder, Eltern, Freunde – die Probleme ähnlich sind. Trotz unterschiedlicher Herkunft, Glauben, ... sind wir alle vom Alkoholismus eines anderen beeinträchtigt. Ich erkannte vor allem, dass meine Verhaltensmuster, d.h. die Reaktion auf den Alkoholiker, ebenfalls krank sind und dass ich aus diesem Karussell aussteigen konnte, wenn ich mich und mein Verhalten änderte. Die alten Muster hatte ich ja jahrelang gelebt und war daran kläglich gescheitert.
Ab meinem ersten Meeting ging ich nun einmal wöchentlich zu einem Al-Anon Meeting und verstand langsam, dass Alkoholismus eine Krankheit ist – nicht Böswilligkeit, nicht Schwäche. Ich habe begonnen schrittweise das 12-Schritte-Programm, die Slogans und die praktischen Erfahrungen anderer Angehöriger anzuwenden. Ergänzend habe ich sehr viel Al-Anon Literatur gelesen und mir auch sonst alles was mit dieser Krankheit zu tun hat „reingezogen“. Sehr schnell habe ich erkannt welche Rolle ich in diesem Familiensystem spiele und ich wusste nicht, wo ich mit der Änderung beginnen sollte. Niemand bei Al-Anon gab mir Ratschläge, ich hörte nur: „Komm wieder, es wirkt“. Und ich merkte mir: „Wenn ich Veränderung lebte, wenn ich mich ändern würde und lernte gesünder zu reagieren, dann würde sich auch die Familiensituation ändern.“ - und es gab keine Versprechen wie sich was ändern könnte.
Schritt für Schritt, langsam – sobald ich (und nur ich) dazu bereit war, konnte ich dann Veränderung in meinem Alltag durchführen. Ich hatte bereits gelernt, Schritte erst dann zu setzten, sobald ich bereit bin diese auch wirklich, konsequent und dauerhaft durchzuhalten.
Es begann damit, dass ich keinen Alkohol mehr nach Haus brachte. Mit der Zeit habe ich verinnerlicht, dass ich mich für das Verhalten meines Mannes nicht zu schämen brauchte – und es gibt in alkoholbelasteten Familien genug, wofür man glaubt, sich schämen zu müssen. Ich lernte, dass es sinnlos ist Versprechen einzufordern, die der Alkoholiker nicht halten kann. Nicht weil er mich nicht liebt, sondern weil Unzuverlässigkeit und Lügen ein Teil dieser Krankheit sind.
Sehr entlastend war zu realisieren, dass ich nicht daran schuld bin, dass mein Partner trinkt. Was auch immer ich tue oder nicht tue – ein Alkoholiker wird immer einen Grund finden, um zu trinken – und das hatte nichts mit mir zu tun. Ich lernte, dass es an mir liegt, ob ich dem Tag auch Schönes abgewinnen kann, oder eben nur traurig bin und mit meinem Schicksal hadere. Unsagbar froh bin ich, dass ich mit den Jahren lernen konnte, viel weniger Angst zu haben. Ich erkannte bei Al-Anon, dass die Angst zu meiner „Angehörigen-Krankheit“ gehört. Angst hat mich täglich begleitet; Angst vor möglichen Ereignissen (Autounfall im betrunkenen Zustand, Arbeitsverlust, …), welche täglich passieren hätten können.
Ich übte auch - Schritt für Schritt - meinen Mann nicht mehr zu kontrollieren (nicht zu zählen wie viel er getrunken hat, …) und ihm seine Verantwortung wieder zurückzugeben.
Die Unterstützung und die Bestärkung der Al-Anon Gruppe war für mich unbeschreiblich wichtig. Nicht nur mein Mann, auch der Freundeskreis, meine Umwelt hatte oftmals Fragezeichen in den Augen. In Al-Anon lernen wir LOSLASSEN (mit dem bekümmern endlich aufzuhören) – viele Menschen in meinem Umfeld haben meine gesunden Veränderungen als fallenlassen empfunden und nicht verstanden, wie wichtig es für Angehörige ist „gesund egoistisch“ zu werden.
Ich tat einfach sehr viel – auch in der Hoffnung, dass mein Mann endlich den Wunsch haben würde mit dem Trinken aufzuhören. Denn eines war bei mir bereits verinnerlicht: „Ich konnte ihn nicht trockenlegen.“ Und er könnte erst dann aufhören zutrinken, wenn er das wollte und möglicherweise, wenn es ihm schlecht genug ging. Zu dieser Chance konnte ich zumindest beitragen, indem ich ihm nicht mehr alles abnahm und „keine Hilfe ist die beste Hilfe“ auch lebte.
In diesen Jahren erkannte ich auch, dass die Basis für mein co-abhängiges Verhalten bereits in meiner Herkunftsfamilie gelegt worden war. Ich hatte einen schwer disharmonischen Vater der auch Alkohol missbrauchte. Die Co-Muster wurden mir vermutlich bereits mit der „Muttermilch“ in die Wiege gelegt. Und ich profitierte von den Erfahrungen anderer Al-Anon Mitgliedern, die erzählten, dass erwachsene Kinder häufig alkoholmissbrauchende oder alkoholkranke Partner finden. Das Familienmuster war mir vertraut.
Ich musste auch erkennen, dass das schwächste Glied in dieser Kette unser Sohn war. Und vor allem musste ich die Illusion begraben, dass er nichts merkt und nicht geschädigt wird. Mir wurde klar, dass er sicher sehr viel wahrnahm, wir aber nicht darüber redeten. So hab ich dann begonnen, das Problem auch bei unserem sechsjährigen Sohn, kindgerecht anzusprechen. Sehr hilfreich war für mich auch das Büchlein „Was heißt betrunken Mama“. Trotz Widerstand meines Mannes konnte unser Sohn so in Alateen lernen: „Ich hab Papa lieb und wenn er betrunken ist und sich komisch benimmt, hat das etwas mit seiner Krankheit zu tun.“ Unser Sohn ging einige Jahre in die Alateen Gruppe für Kinder und Jugendliche. Ich bin überzeugt, dass er davon profitiert hat und durch Alateen sehr gestärkt wurde.
Leider konnte mein Mann nicht trocken werden. Ich bin sehr dankbar bei Al-Anon zu sein und bereits viel gelernt zu haben. Ich habe meinen Weg – ohne Ratschläge - finden dürfen, ich habe mich kennengelernt. Ich habe gelernt Grenzen zu setzten und auf mich zu achten. Durch diesen Prozess habe ich erkannt, wie wertvoll mein Leben ist und dass ich darauf achten will, dass es mir gut geht. So habe ich den Mut gefasst, die Ängste bewältigt und mich von meinem Mann getrennt. Er darf seinen Weg gehen und ich habe für mein Leben entschieden, dass ich so nicht mehr leben werde.
Ich gehe weiterhin in die Al-Anon Familiengruppen – das 12-Schritte-Programm wirkt sich sehr positiv auf mein ganzes Leben aus. Ich lebe heute in einer zufriedenen, sehr glücklichen Partnerschaft.
Ich bin sehr dankbar, dass ich zu Al-Anon gefunden habe und ich bin auch all jenen Al-Anon Freunden sehr dankbar, von denen ich lernen durfte. |
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