Papa ich liebe dich, aber ich hasse deine Krankheit

"Papa ich liebe dich, aber ich hasse deine Krankheit!"

 

Der Alkohol hat sich in unser Leben eingeschlichen, ganz langsam, und er hat Besitz über meinen Vater genommen.

 

Ich wurde 1986 in eine ganz „normale“ Familie hineingeboren. Vater, Mutter, meine jüngere Schwester und ich. Wir hatten eine hübsche Wohnung in der Stadt und alles schien gut.

 

Mein Vater trank gerne in Gesellschaft oder zum Feierabend seine 1-2 Bier vorm Fernseher. Kein Grund zu Sorge würde man meinen. Im Laufe der Jahre veränderte sich aber sein Trinkverhalten und die Dosis an Alkohol nahm zu. Bald gab es keinen alkoholfreien Tag, und wieder einige Zeit später keinen rauschlosen Tag mehr. Dann wurde uns bewusst „Mein Vater ist Alkoholiker“. Bis zur Erkenntnis, dass dies aber eine Krankheit - eine Familienkrankheit - ist, zu dem Schritt brauchte es wieder einige Zeit. Es dauerte viele, viele Jahre bis wir Hilfe fanden.

 

Im Alter von zehn Jahren, machte mich meine Mutter darauf aufmerksam, dass mein Vater Alkohol trank und dann mit dem Auto fuhr. Als Kind wusste ich, dass man das nicht tun sollte, allerdings war das für mich kein Grund meinen Vater als Alkoholiker zu bezeichnen. Alkoholiker das waren für mich die Leute, die auf der Strasse lebten, die dick vermummten Männer mit den BILLA-Sackerl. Das waren für mich Alkoholiker. Aber mein Vater? Der Mann der eine wunderbare Wohnung besaß, einen festen Job hatte und eine gesunde Familie??? Nie im Leben!

 

Zwei Jahre später dachte ich anders. Denn dann bemerkte ich das veränderte Verhalten meinen Vaters. Ich bemerkte die glasigen Augen am Abend, den wackeligen Gang, die mit der Zeit immer stärker werdenden Ringe unter den Augen, das fahle Gesicht, den strengen Geruch.

Dann kam die Scham.

 

„Was sagen die Leute?“ Durch dieses tabuisierte Thema Alkoholismus wurden wir eingeschüchtert. Keine Freunde wurden mehr nach Hause eingeladen, aus Angst sie könnten was merken (im Nachhinein erfuhren wir, dass Keiner jemals etwas bemerkt hatte), in Gesellschaft wurde die perfekte Familie gespielt, draußen wurden Aktivitäten mit dem Vater vermieden, aus Angst irgendwer könnte reden. Ich versteckte mich am Abend, wenn er nach Hause kam. Ich schloss mich ins Bad ein und drehte die Dusche auf, ich legte mich ins Bett und stellte mich schlafend, ich tat so als würde ich telefonieren, nur damit er nicht mit mir sprach. Ich war damals ca. 12 Jahre.

 

Dieses Spiel hielt sich lange. Und ich wurde immer verklemmter und rebellischer zugleich. Daheim wurde fast nur mehr geschrieen, gestritten und geweint. Keiner wusste sich mehr zu helfen. Wir hielten uns selber nicht mehr aus. Ich war wütend auf meinen Vater, gab ihm die Schuld an allem was schief lief. Zu diesem Zeitpunkt hasste ich ihn sogar. Ich wollte ihn wirklich nicht mehr sehen. Jeden Abend, wenn er von seinen Sauftouren noch nicht zuhause war, wenn das Telefon läutete oder ich die Rettung vorbei fahren hörte, dachte ich nur: „Er liegt jetzt sicher irgendwo verletzt im Straßengraben“ und wie oft dachte ich mir: „Bitte fahr doch einfach gegen einen Baum und sei tot, dann ist das alles vorbei“.

 

Kann man sich das vorstellen??? Ein kleines, unschuldiges Mädchen das so über seinen Vater denkt? Aber damals konnte ich einfach nicht anders.

 

Die Aufmerksamkeit die ich zuhause nicht bekam, holte ich mir woanders. Am Wochenende, auf Partys und Festen. Ich trank für mein Alter sehr viel. Heute weiß ich warum. Nur durch den Alkohol wurde ich locker und konnte wieder lachen und Spaß haben. Konnte kurz mal die Situation zuhause vergessen. Aber immer wieder gab es Zusammenbrüche bei denen ich irgendwo saß und heulte. In der Schule ging es bergab. Ich war ständig krank, mit meinen Gedanken war ich ständig zuhause und dachte an meinen Vater wie er heute wieder nachhause kommen würde.

 

Alles was ich in der Schule hörte ging bei einem Ohr rein und beim Anderen wieder raus. Meine Noten wurden schlechter und ich blieb auch sitzen. Und was sagten meine Lehrer: „Sei nicht so faul, tu was!“ Na toll! Keiner war da der mich verstand. Keiner war da der mich mal in den Arm nahm und mir Trost spendete, dabei war das das Einzige was ich brauchte.

 

Ich fing dann an, dass ich meinen engsten Freundinnen von zuhause erzählte (vorher war das Tabu, ein „Familiengeheimnis“). Die hörten mir zwar zu, fanden es schlimm, verstanden mich aber nicht. „Warum lässt sich deine Mutter nicht scheiden? Warum geht ihr nicht einfach?“... ja warum? Ich wusste es nicht. So oft war die Rede von Scheidung, Frauenhaus, etc. ... auch Selbstmord war in unseren Gedanken nicht ausgeschlossen. Der erste Gedanke an den Freitod kam mir mit 12.

 

Aber so schnell sollte es mit uns nicht vorbei sein. Jemand hatte noch was anderes mit uns vor.

 

Meine Mutter fand zu Al-Anon, Selbsthilfegruppe für Angehörige und Freunde von Alkoholikern. Ganz begeistert erzählte sie mir immer, was da für Leute sitzen würden und dass die Alle dasselbe erlebt hatten und dass sie sie so gut verstanden. Ich war neugierig und hörte ihr immer zu. Eines Tages fragte sie mich ob ich mal mitkommen wolle. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Gefühle bereits vergessen und ich war leer. Das Leben zog an mir vorbei und ich wäre mit Jedem und überall hin mitgegangen. Ich danke Gott oder sonst irgendwem, dass es meine Mutter war, die mich bei der Hand nahm und mit mir zu Al-Anon ging. Dort hörte ich Sachen und lernte Leute kennen bei denen ich mich sofort wohl fühlte. Ich hörte von einem 12-Schritte-Programm als Unterstützung für unser Leben, Ich hörte die Worte „Genesung“ , „Loslassen“, „Vertrauen“, „Kraft“ und „Hoffnung“ und vor allem lernte ich, dass Alkoholismus eine Familienkrankheit sei und wir alle betroffen sind. Nicht nur der Trinkende. Der Rest der Familie ist Co-Abhängig.

Aaaha!

 

Mir tat diese Gruppe so gut und ich ging immer wieder mit neuer Energie aus dem Meeting, sodass ich diesen einen Abend pro Woche nicht missen wollte. Zum Schutz der Angehörigen wird die Anonymität in den Meetings sehr groß geschrieben. „Wen du hier siehst, was du hier hörst, wenn du gehst bitte lass es hier!“ war das Motto. Ich brauchte mir also wegen Gerede von draußen keine Sorgen zu machen.

 

Nach einer Weile erzählte man mir, es gäbe eine Selbsthilfegruppe für Kinder von Alkoholikern, genannt „Alateen“. Ich ging hin. Es tat mir so gut andere Kinder mit den selben Problemen zu treffen.

 

Seit ich bei Alateen bin, geht es mir gut. Ich habe akzeptieren können, dass mein Vater krank ist und das er nicht aus einer Laune heraus trank. Ich habe gelernt mit einem nassen Alkoholiker unter einem Dach zu leben und trotzdem auf mich zu achten. MEINE Bedürfnisse wahr zu nehmen und nicht MEIN Leben nach dem Leben meines Vaters zu richten. Ich lernte meine Gefühle neu kennen. Ich wusste wieder wann ich traurig und vor allem wann ich glücklich bin. Ich kann wieder ehrlich lachen und weinen. Mein Selbstbewusstsein stieg durch diese Erkenntnis. Ich weiß jetzt was ich will. Ich habe mich in Liebe von dem nassen Leben meines Papas trennen können ohne ihn zu hassen. Ich habe damals akzeptiert, dass er bald sterben würde (so lautete die Diagnose der Ärzte). Aber nur dadurch ist es mir besser gegangen. Ich lernte mich mit meinen Fehlern zu akzeptieren, meine Schwächen aber auch meine Stärken zu erkennen. Mich selber wahrzunehmen.

 

Auch die Anonymen Alkoholiker spielten eine große Rolle. Zu denen ging ich nämlich immer wenn ich kurz davor war die Hoffnung zu verlieren. Dort traf ich wunderbare Menschen, mit derselben Krankheit wie mein Vater, die mir zeigten, dass es auch nach dem tiefsten Tiefpunkt immer noch bergauf gehen kann.

 

Heute kann ich sagen: „Papa ich liebe dich, aber ich hasse deine Krankheit!“ Dieses Gefühl ist toll!

 

Und mein Vater ist jetzt, nach zwei mehrmonatigen Entzügen und einigen psychiatrischen Aufenthalten, seit ein paar Jahren trocken. Und ich bin wahnsinnig stolz auf ihn.

 

Eine glückliche Tochter aus alkoholkranker Familie